Gründung des Darlehnskassenvereins (Raiffeisen)

Ein großes Problem für die Gemeinde ist das rasche Bevölkerungswachstum, ausgelöst durch den sogenannten demographischen Übergang. Aufgrund besserer Ernährung, größere Hygiene und Fortschritt bei der medizinischen Versorgung sank die Sterblichkeit besonders bei Kindern stark. Das führte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dazu, dass sich innerhalb von 40 Jahren die Einwohner verdoppelten. Diese große Zunahme vergrößerte nicht nur die Not, die bei der Landbevölkerung schon immer vorherrschend war (besonders jede Missernete beschwor Mangel und Hungersnot herbei, da die Menschen buchstäblich von der Hand in den Munde lebten), sondern minderte auch die Aussicht auf eine Erwerbsmöglichkeit. Da viele keinen Arbeitsplatz in Schifferstadt fanden, wanderten sie in die Städte oder sogar ins Ausland ab.

Besonders in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts erfolgten zahlreiche Auswanderungen nach Amerika, wo sich viele eine bessere Zukunft erhofften. Die Daheimgebliebenen hatten dank der Eisenbahn die Möglichkeit, in den benachbarten Städten zu arbeiten und gleichzeitig im Nebenerwerb Landwirtschaft zu betreiben. Trotzdem wurden auch viele Schifferstadter von der Not hart getroffen, wenn auch nicht so schwer wie die Arbeiter in den wachsenden Städten, die oft unter menschenunwürdigen Verhältnissen dahin vegetierten.

Dass in diesen Zeiten des Umbruchs immer mehr Menschen unter die Räder kommen, wird von Pfarrer Ripplinger nicht gottgewollt hingenommen. Er will nicht zusehen wie die wirtschaftliche Not immer mehr Menschen in den Ruin treibt. Das unterscheidet ihn in jener Zeit von einem Großteil seiner Amtsbrüder, die eine soziale Verantwortung der Kirche nicht erkennen. Als ausgesprochener Pragmatiker versucht er daher durch verschiedene Maßnahmen die Not der Menschen zu lindern.

Gewiss wurde sein Handeln beeinflusst durch die Sozialenzyklia "Rerum novarum" (1890) von Papst Leo VIII. (Eigentumsbildung in Arbeitnehmerhand) und durch Bischof Ketteler, der 1869 auf der Bischofskonferenz in Fulda die "Fürsorge der Kirche für die Arbeiterschaft" betont und sich für eine staatliche Sozialgesetzgebung einsetzte (s.a. Artikel auf Katholisch.de). Auch der Speyerer Bischof Nikolaus von Weis kritisierte schon 1842 Papier- und Tuchfabrikanten im Neustadter Tal und forderte die Bayerische Regierung auf nicht zuzusehen, wie "das trostloseste Proletariat aller Zeiten" entsteht.

Adolf Kolping, der mit der 1846 erfolgten Gründung des ersten Gesellenvereins auf eine fachliche Fortbildung der Gesellen zur Verbesserung ihrer sozialen Situation zielte, dürfte für ihn ebenso Vorbild gewesen sein, wie der Sozialreformer Friedrich Wilhelm Raiffeisen, der mit der ab 1849 erfolgten Gründung von Genossenschaftsvereinen einen wesentlichen Beitrag zum wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt der Menschen leistet, in dem er der weitverbreiteten Skepsis seiner Zeit die hoffnungsvolle Idee der tätigen Nächstenliebe entgegenstellt.

Die Idee des gläubigen Christen evangelischer Konfession gipfelte darin, dass das Entscheidende für die Verbesserung der Verhältnisse auf dem Lande nicht von außen kommen konnte, sondern von den Betroffenen selbst bewirkt werden müsste. Einer sollte für den anderen eintreten; alle sollten für den einstehen, der in Not geraten war, wie ebenso der eine auch für alle anderen sich einzusetzen bereit sein musste. Keiner konnte es alleine schaffen, den Teufelskreis von Verschuldung, Armut und sozialem Elend zu durchbrechen, aber gemeinsam würden sie den vielfachen Nöten Wiederstand zu leisten imstande sein.

Das 19. Jahrhundert, das voller Gärung war, hat mit den oben genannten Männern Leute hervorgebracht, die aus christlicher Verantwortung heraus auf unterschiedliche Art und Weise auf die Herausforderungen der Zeit eine Antwort suchten und gaben. Sie haben den Lauf der Geschichte positiv beeinflusst und markante Zeichen gesetzt. In Schifferstadt handelt Pfarrer Ripplinger in ihrem Sinn.

Angetan von dem Genossenschaftsprinzip Raiffeisens beschließt er 1892, einen Darlehnskassenverein zu gründen. So kommt es unter Vorsitz von Pfarrer Brenner aus Labach, Kreis Zweibrücken, im Februar 1892 zur Gründung des Schifferstadter Darlehnskassenverein eGmuH (Eingetragene Genossenschaft mit unbeschränkter Haftpflicht) zur "Förderung der Wirtschaftsverhältnisse der Mitglieder durch Beschaffung der zu Darlehen an die Mitglieder erforderlichen Geldmittel unter gemeinschaftlicher Garantie". Friedrich Sattel wurde zum 1. Vorsitzenden und Pfarrer Ripplinger zum Aufsichtsratsvorsitzenden gewählt (dieses Amt übt er bis zu seinem Tod aus).

257 Bürger trugen sich sofort in die Mitgliederliste ein, darunter auch Bürgermeister Jean Kuhn. Dieser eindrucksvolle Vertrauensbeweis für Pfarrer Ripplinger zeigt, dass seine Glaubwürdigkeit und sein Ansehen in der Bevölkerung außerordentlich groß war, denn wenn auch die Genossenschaftsidee mittlerweile weit verbreitet war, so gab es bei vielen einfachen Leuten doch Zweifel und Vorbehalte gegenüber dieser Art von Solidarität. Bisher hatten die Bauern, die Handwerker, die kleinen Gewerbetreibenden und Taglöhner kaum Verständnis für ihre Sorgen gefunden und schon niemand, der ihnen einen Weg aus ihrem Elend gewiesen hätte.

Oft genug waren ihre Gutgläubigkeit und Vertrauensseligkeit von Schwindlern und Betrügern bitter enttäuscht worden, so dass sie längst misstrauisch geworden waren. Aber einem Mann wie Pfarrer Ripplinger vertrauten sie ihre letzten Ersparnisse an. Bis Ende 1882 steigt so die Mitgliederzahl auf 400 an und 79 verschiedene Berufsbezeichnungen, darunter der Oberförster, der Gendarm, der Gemeindeschreiber sämtliche Handwerker bis hin zum Peitschenmacher und „Bleitlöther“, Bierbrauer, Wirthe, Metzger, Waffelbäcker usw. zeigen an, dass nicht nur „Ökonomen“, die mit 156 allerdings die größte Gruppe stellen, in dem Darlehnskassenverein eine Chance sahen, ihre wirtschaftliche Lage dauerhaft zu verbessern. Neben Waagenfabrikanten und Dreschmaschinenbesitzern, die wohl schon zu den kapitalkräftigeren Mitgliedern gehörten, sind auch von Anfang an Näherinnen, Waschraufen und Dienstmägde Mitglied.

"Ökumenische Zusammenarbeit" war damals übrigens kein Thema, sie wurde einfach praktiziert, wie etliche Namen unter den Gründungsmitgliedern belegen. So trägt die Genossenschaftsidee des evangelischen Christen Raiffeisen, umgesetzt von dem katholischen Pfarrer Ripplinger, auch bei uns zur Überbrückung konfessioneller Gegensätze bei. Ein Landwirtschaftlicher Consumverein in Form einer Genossenschaft war übrigens schon 1884 in Schifferstadt gegründet worden. Er bestand mehrere Jahrzehnte, konnte aber keine größere Bedeutung erlangen.

Der Darlehnskassen-Verein fördert das wirtschaftliche Leben in Schifferstadt

Der im Sinne Raiffeisens wirkende Darlehnskassen-Verein nimmt in den nächsten Jahrzehnten eine stürmische Aufwärtsentwicklung. 1897 wird zusätzlich eine Tabakverkaufsgenossenschaft mit 58 Mitgliedern gegründet, und 10 Jahre nach der Vereinsgründung erreichte der Gesamtumsatz stolze 25 Millionen Mark, eine Riesensumme für damalige Verhältnisse. Damit ist der Verein in dem ehemals von der Maas bis an die Memel reichenden Deutschland der größte und wohlhabendste. 1219 Mitglieder der 6100 Einwohner zeigen auf, dass so gut wie jede Familie an der Darlehnskasse beteiligt ist. Durch ich finanzielles Engagement werden die Mitglieder sehr stark an ihre Genossenschaft gebunden und zeigen darum auch großes Interesse am Geschäftsverlauf. Der Darlehnskassen-Verein ist in Schifferstadt zu einem wirtschaftlichen Faktor geworden, an dem alle partizipieren.

War in den letzten Jahrzehnten vor der Jahrhundertwende in Schifferstadt der Anbau von Tabak noch vorherrschend, so verdrängte in den letzten Jahren des ausgehenden 19. Jahrhunderts der Anbau von Kohl (Weißkraut) immer mehr den Tabak. Allein 1900 wurden, wie in der Speierer Zeitung nachzulesen ist, 800 Waggons Kraut verladen, die vornehmlich nach Frankreich und in die Schweiz gingen. „Schifferstadter Kraut scheint fast Weltruf zu genießen“, wird an anderer Stelle der Speierer Zeitung berichtet und der Chronist schreibt weiter, dass zusätzlich zum Kraut für die hiesige Sauerkrautfabrik und des noch nicht verladenen Restestandes ein Einkommen für die Landwirtschaft von über einer Viertel-Million Mark überschritten wird. Die Genossenschaftsmitglieder haben an dieser erfreulichen wirtschaftlichen Entwicklung ihren Anteil (Ein Jahr später hatten die Bauern durch Preisverfall und verregneter Ernte allerdings große finanzielle Einbußen). Der Darlehenskassen-Verein dürfte in diesem Jahr für viele rettender Anker gewesen sein, zumal es in Schifferstadt dazu keine Alternative gab (die Gemeindesparkasse – heutige Sparkasse Vorderpfalz – wurde erst 1905 gegründet).

Der Bau des riesigen Raiffeisen-Lagerhauses, 1898 gegenüber dem Hauptbahnhof in Rekordzeit errichtet und der Bau eines Bankgebäudes in der Kirchenstraße 1904 demonstrierte auch nach außen eindrucksvoll die wirtschaftliche Stärke des Vereins. Das neue Bankgebäude ist ein Repräsentationsbau in städtebaulich dominanter Lage, im Zentrum an einer der ältesten Straße Schifferstadts gelegen und an der Nord- und Westseite mit Portraitbüsten von Raiffeisen und Geistl. Rat Ernst Ripplinger gibt es in Schifferstadt zu damaliger Zeit nicht viele.

Neben der Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse ist es ein besonderes Anliegen des Vereins und seines Aufsichtsratsvorsitzenden, durch Kurse und Vorträge zu Sachthemen das allgemeine Bildungsniveau für die arbeitende Bevölkerung zu heben, damit sie mit den veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen Schritt halten können. Auch für die Geschäftsführung der Genossenschaft müssen die notwendigen Kenntnisse vermittelt werden, da auf Dauer auch die größte Begeisterung für die genossenschaftliche Idee allein nicht imstande ist, erfolgreich zu agieren.

Der Dahrlehnskassen-Verein hat sich bis heute als Organisation durch wechselhafte Zeiten bewährt und als segensreich erwiesen. Dabei wurde der Gedanke an Selbsthilfe auch nach der Umbenennung in Raiffeisenbank Schifferstadt (1953) und über eine Fusion 2011 zur Volksbank Kur- und Rheinpfalz wachgehalten.