Das Hungertuch
Eine Betrachtung von Pfr. Albrecht Effler
(aus den Gottesdiensten vom 7./8. März 2020)
Ein Hungertuch wurde früher verwendet, um in der Fastenzeit Bilder in der Kirche zu verhüllen.
Heute gibt es alle zwei Jahre ein Hungertuch von Misereor, das einen Impuls in die Fastenzeit geben soll.
Das Hungertuch, von dem Künstler Uwe Appold aus 2019, ist abstrakt gestaltet. Erst mal erkennt man gar nicht, was so ein abstraktes Bild will. Lasst Euch auf dieses Tuch ein: Jede und Jeder kann darin etwas anderes entdecken.
Mensch, wo bist du?
Hallo, ist da jemand? Keiner da? Das ist ja mal wieder typisch: Wenn jemand die Verantwortung übernehmen soll, drücken sich alle. Wenn man sein Leben ändern müsste, will´s keiner gewesen sein. Wenn man Hilfe braucht, ist keiner in der Nähe.
Viel Blau ist auf dem Bild: Leere oder vielleicht Wasser?
Wasser, das durch Microplastik verschmutzt ist.
Wasser, in dem Bootsflüchtlinge ertrinken.
Wasser, das in Unwettern Wohnungen überschwemmt.
Wasser, das in menschengemachten Wüsten fehlt.
Mensch, wo bist du?
Wasser kann auch für Leben stehen. Und Blau für die Sehnsucht und Tiefe:
Wir sehnen uns alle nach einer Welt, die in Ordnung ist.
Wir sehnen uns nach einem gelungenen Leben, für ein Leben das nicht nur oberflächlich ist.
Ich sehe auf dem Bild ganz viel Sehnsucht.
Halt, da ist doch was: ein goldener Ring. Der ist so perfekt rund, der kann nicht von Hand gemacht sein.
Tatsächlich, der ist aus einer computergesteuerten Fräse. Danach wurde er rot angestrichen und mit Blattgold überzogen.
Könnte die Sonne sein. Vielleicht ist es auch ein Rettungsring in all dem Wasser.
Oder ein Symbol für Gemeinschaft, für Treue, für Unendlichenkeit.
Vielleicht ist es auch ein Freundschaftsring.
Natürlich könnte es auch ein Heiligenschein sein, oder ein Symbol für Gott.
Der Ring schwebt über dem Bild als gehöre er nicht so richtig dazu.
Ist er abgehoben?
Und unter dem Ring ist Erde.
Es könnten Inseln sein oder ganze Kontinente, die da aus dem Wasser auftauchen.
Staubig und schmutzig ist das, das Gegenteil vom glänzenden Kreis.
Die verwendete Erde stammt aus dem Garten Getsemani, wo Jesus vor seiner Gefangennahme gebetet hat.
Die Erde steht also auch für Leid.
Dennoch ist sie unser Lebensraum, wo wir geerdet sind.
12 Steine sind mit der Erde verarbeitet.
Sind es die 12 schlafenden Jünger im Garten Getsemani?
Oder einfach nur Stolpersteine, damit die Sache nicht so glatt läuft.
12 ist die Zahl, die Gott und Menschen verbindet.
Drei für Gott mal Vier für die Welt.
Wir dürfen glauben, dass Gott auf unserer Erde da ist.
Da ist noch ein Haus auf dem Hungertuch.
Bin ich hier zu Hause?
Aber das Haus ist noch nicht ganz fertig: eine Seite fehlt fast ganz.
Oder es ist einfach nur offen: für Ankommende oder für neue Ideen.
Auf jeden Fall ist das Haus auch aus Erde gebrannt.
Aus derselben Erde, die auch ansonsten auf dem Bild ist.
Die Erde ist unser gemeinsames Haus, so hat es Papst Franziskus in seiner Enzyklika „Laudato Si“ ausgedrückt.
Wir müssen uns gemeinsam um unser Haus sorgen. Die großen Probleme dieser Welt hängen eng zusammen.
Der Lebensstil vieler Länder verbraucht zu viele Ressourcen, die in anderen Ländern unter ungerechten Bedingungen abgebaut werden.
Unser Lebensstil bedingt den Klimawandel und den Verlust der Artgenvielfalt.
Der Klimawandel verursacht wieder Armut.
Aus den ungerechten Arbeitsbedingungen und der Armut erwächst soziale Ungerechtigkeit, schlechte Lebensqualität, Verlust der sozialen Identität und damit Extremismus und
Kriege.
Aus Angst vor Extremismus und Einwanderung schotten sich Länder ab, misstrauen anderen, so dass die angehenden Probleme nicht gemeinsam angegangen werden können.
Das gemeinsame Haus steht ganz schön schief.
Und tatsächlich, auch auf dem Tuch ist es nicht ganz in der Mitte, sondern ein wenig verrückt.
Angesichts des Leids in der Welt fragen sich Menschen: Gott, wo bist du?
Sicher hat sich Jesus das auch gefragt, als er im Garten Getsemani gefangen genommen wurde.
Unser Bild fragt aber: Mensch, wo bist du?
Und da muss ich Stellung beziehen. Habe ich mein Haus auf Sand gebaut?
Wo bin ich Mensch?
Hier ist er dann, der Mensch.
Mit einem roten und blauen Kleid passt er ganz gut ins Bild.
Die Arme hat er weit geöffnet, als würde er etwas auffangen wollen.
Kümmert er sich um das gemeinsame Haus?
Hat er Leidenschaft für eine bessere Welt?
Hat er Mitleid – Mitleidenschaft mit den Armen?
Mensch, wo bist du?
Die Figur auf dem Tuch streckt die Hand in die Höhe und scheint zu rufen:
Hier! Hier bin ich! Hier bin ich daheim! Hier bin ich verantwortlich.
Unser gemeinsames Haus ist zerbrechlich, es wirkt porös und angreifbar.
Und doch wurde es golden angemalt: Es ist wertvoll, ein Gottesgeschenk.
Es ist vom goldenen Ring umgeben:
Gott umgibt unser gemeinsames Haus mit seiner Treue.
Das Haus ruht in der rettenden Liebe Gottes.
Es ist nicht auf Sand gebaut.
Gott hat seinen Freundschaftsring über unser Haus gelegt.
Ausstellung der Hungertücher aus den vergangenen Jahren
Die MISEREOR-Hungertücher 1976 – 2020
MISEREOR hat 1976 die Tradition der historischen Hungertücher neu aufgegriffen und ihr in über 40 Jahren weltweite Resonanz verschafft.
Meist von Künstlern und Künstlerinnen aus dem Süden gemalt, ermöglichen die MISEREOR-Hungertücher eine Begegnung mit dem Leben und dem Glauben von Menschen anderer Kulturen. Kunst ist mehr als schöner Schein: Sie ist Element der Gestaltung gemeinschaftlichen Lebens und wesentlicher Teil von Emanzipationsprozessen. Sie ist immer auch Anfrage an uns und unseren Lebensstil.
Das Begleitheft zu den MISEREOR-Hungertüchern 1976-2020 bieten wir hier zum Download an.